Rezension: Gárdonyi, Géza – „Mit der Nacht vertraut“

Roman
Aus dem Ungarischen von Hans Thurn
Verlag: Agentur des Rauhen Hauses, 1961
Originaltitel: Szunyoghy miatyánkja, 1913 & 1916
Bezug: Antiquariat

In geselliger Runde erzählt ein junger Polizeioffizier und Kriminalagent, Dezső Imrefi, wie alltäglich und auch wie seltsam die Jagd nach Verbrechern sein kann – und wie lächerlich und voreingenommen er sich in der Woche zuvor angestellt hatte, als er einen flüchtigen Dieb stellen wollte. Am Tag, als ihm Zwillinge geboren werden – und er nicht weiß, wie er für zwei Kinder aufkommen soll, erhält er einen lukrativen Auftrag: Für 2000 Gulden Prämie soll er einen Dieb, Betrüger und Hochstapler dingfest machen. Mit diesem Geld hätte er keine Sorgen mehr. Voll Eifer macht sich Imrefi an die Arbeit. Da er annimmt, dass der junge Verbrecher sich außer Landes bringen will, schifft er sich in Fiume ein. Schon vorher war ihm ein Mann aufgefallen, der sein Interesse erregt und später sein ganzes Jagdfieber anstacheln wird: Ein in einen grauen Lodenanzug gekleideter Mann, der als Gepäck nur einen Pappkoffer mit sich trägt. Auf einem Auswandererschiff nach Amerika, auf dem der Polizist den Dieb vermutet, treffen sich die Beiden wieder. Dieser Landedelmann macht sich aber auch zu verdächtig, indem er falsche Namen angibt! Sie kommen ins Gespräch, der Beamte tut so, als spiele er mit Selbstmordgedanken wegen einer Frau, um den Anderen zum Sprechen zu bringen und der Mann, Daniel Szunyoghy erzählt seine abenteuerliche, zum Teil unwahrscheinliche Lebensgeschichte:
Anknüpfend an die vorgegebenen Selbstmordgedanken, versucht er Imrefi, der sich zur Tarnung Adolf Mayer nennt, davon abzuhalten: Der Lebenstrieb eines jeden Menschen sei so groß – und wenn nicht die Fantasie übermächtig würde, so nähme sich niemand das Leben. Er selbst ist Sohn eines Maurers. Der Vater war sehr streng, und als er als kleines Kind unwissend eine Dummheit begeht, droht ihm die Mutter mit der Floskel: „Der Vater schlägt dich tot“. – Der kleine Daniel nimmt das wörtlich und reißt aus. Obwohl er nahe daran ist, nimmt er sich doch nicht das Leben. Rechtzeitig wird er zurück gebracht – an eine Strafe ist nicht mehr zu denken. Jahre später eröffnet ein Lehrer der Familie, welch kluges Bürschchen dieses Kind ist, das alles Geschriebene geradezu verschlingt. Weil er fleißig ist und Klassenprimus, erlässt ihm die Behörde das Schulgeld. Einmal wird er unschuldig als Dieb verdächtigt. Das trifft ihn so sehr, dass er wieder mit dem Gedanken an Selbstmord spielt; denn diese Schande wird er nicht überleben können. Seine Unschuld wird aber erkannt – Lehrer und Mitschüler tun so, als hätten sie schon immer daran geglaubt – und Daniel fügt sich wieder in die Gemeinschaft.
Diesem Daniel Szunyoghy scheint immer sehr schnell die Fantasie durchzugehen. Er malt sich die schrecklichsten Dinge aus – spielt mit dem Gedanken an Selbstmord – doch der Lebenswille behält die Oberhand. Dazu kommt dann eine glückliche Fügung, welche die Dinge wieder ins Lot bringt.
Unterdessen berichtet der Polizeioffizier – wie in der Oper – „beiseite gesprochen“ – seiner Kollegenrunde und damit dem Leser, über den Fortgang seiner Bemühungen, den Dieb zu fangen – und vor allem von seinem Misstrauen Szunyoghy gegenüber.
Er ist geradezu besessen von diesem undurchsichtigen Mitreisenden, der ganz sicher etwas zu verbergen hat und ihn an der Nase herumzuführen scheint. In seinem blinden Eifer bemerkt er gar nicht, welch menschenfreundlicher Zeitgenosse Szunyoghy ist. Sein Schicksal geht ihm zwar nah –trotzdem hat er sich in den Kopf gesetzt, ihn zu verhaften: „Nein, so einfach lasse ich diesen Mann nicht mehr aus meinen Klauen! Er ist ein Brandstifter. Wenn es aber nur das Haus wäre, das er angesteckt hat, müsste er nicht ausreißen! Vielleicht hat er auch jemanden umgebracht. Sicher sind auch seine Hände mit Blut befleckt.“ Nun geht die Fantasie mit Imrefi durch. Er kann nicht mehr klar denken, obwohl er doch glaubt, beherrscht und kalt an die Sache heran zu gehen. Je mehr Szunyoghy Andeutungen von seinem Leben macht, die er später ausführt, umso mehr verbeißt sich der Polizist in seine Vorstellung, dieser sei ein Verbrecher. Als Leser habe ich immer wieder den Eindruck, Daniel Szunyoghy habe ihn längst durchschaut, treibe sein Spiel mit Andeutungen und nachgeschobenen autobiografischen Erklärungen mit ihm, um ihm eine Lehre zu erteilen, wie das Leben wirklich aussieht.
Gárdonyi, so der Übersetzer Hans Thurn im Nachwort, nimmt spöttisch die ungarische Gesellschaft der Jahrhundertwende auf die Schippe:
Aus Langeweile und Lebensüberdruss denkt man schnell an Selbstmord – es ist geradezu eine Modeerscheinung. Vor allem die kleinen und großen Gutsbesitzer kommen schier um vor Langeweile: Da hält die verwöhnte Gattin eines Landwirts die „Primanerlyrik“ auf rosa Papier schon für große Kunst und schmachtet nach Romantik. Klavier- und Geigespiel gehört zum guten Ton, auch wenn man nichts davon versteht (so wie Szunyoghys zweite Frau). Der Rückzug aufs Landleben ist en vogue – auch wenn die Dilettanten dabei große Verluste machen. Tägliche gegenseitige Besuche gehören zu den Zerstreuungen, dabei werden Geschichten über Aberglaube und künstlich gezüchtete Furcht als Sensation hochstilisiert. Der Landadel verspielt Hab und Gut, benimmt sich aber nach wie vor „herrschaftlich“ – man hat Bedienstete, ohne sie bezahlen zu können – unter Stand wird nicht geheiratet. Ein Leben mit Arbeit zu verdienen ist unter ihrer Würde. Andererseits kann man auch in den Adel und Grundbesitz einkaufen, wenn man reich genug ist.
Ein Gegenspieler dieser Gesellschaft ist Daniel Szunyoghy, der sich erfolgreich in immer neuen Berufen versucht – und dabei die eigenhändige Arbeit schätzt. Er bereitet sich jeweils gründlich mit dem Studium von Lehrbüchern darauf vor. So war er nicht nur Lehrer, sondern auch Bergingenieur im Goldbergwerk und zuletzt Landwirt, Er sieht auch die Not seiner Mitmenschen: Ein Edelmann des Herzens. Seine erste Frau, Hedwig, ist die Verkörperung von Gárdonyis Frauenideal: Fleißig, heiter, schön. Die Ehe mit ihr, die beste der Welt! Im Gegensatz dazu die zweite Ehe mit Margit, einer verwöhnten, verzärtelten Frau, die nach unreifer Lyrik schmachtet. Daniel versucht vergeblich, sie für das Leben abzuhärten. Da er sie liebt, lässt er sie doch immer wieder gewähren. Umso härter trifft ihn ihre Untreue. Wieder überwältigt ihn fast die Fantasie und wieder trägt er sich mit Selbstmordüberlegungen. Doch auch dieses Mal findet er zu Haltung und Abstand. „Spiro – spero“ „ich atme – also hoffe ich“ – war schon der Wahlspruch der Familie seiner ersten Frau – und ist auch der seine geworden.
Im Text laufen die philosophischen Ansichten des Autors mit, Aufklärung über das reale Leben und dass man nichts zu ernst nehmen sollte: Auch wenn der Himmel bedeckt ist, wird doch die Sonne wieder einmal scheinen. Jeder Mensch hat die Chance einer neuen Begegnung und einer neuen Liebe.
Nur so ist zu erklären, dass sich Daniel Szunyoghy immer wieder am eigenen Schopf mit einer Portion Glück und Zuversicht aus dem Sumpf seiner Schicksalsschläge zieht.
Die Erzählung hat natürlich ein Happy End: Der Polizeioffizier entlarvt den Dieb und nimmt ihn fest. – Er stellt aber auch die Unschuld des vermeintlichen Mörders fest.
Ein gut zu lesendes Buch, welches ganz im etwas antiquierten Stil um die Jahrhundertwende geschrieben ist – und uns daher einen guten Einblick in die damalige Gesellschaft gibt. Es empfiehlt sich, das Nachwort des Übersetzers zuerst zu lesen, in dem dieser berichtet, aus welchem Erlebnis Gárdonyi dieses Buch geschrieben hat – damit wir Leser von heute uns leichter in die damalige Gesellschaft hineinversetzen können.

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